Besuch bei der alten Dame

Das lange Leben eines Saurer-Kippers

Von 1903 bis 1986 wurden in Arbon am Bodensee Nutzfahrzeuge der Marke Saurer gebaut. Einige Busse und Lastwagen des Schweizer Traditionsherstellers sind erhalten geblieben, darunter ein Kipper vom Typ S4C, Baujahr 1953. Seine Geschichte lässt sich lückenlos zurückverfolgen, alle Vorbesitzer sind bekannt. Heute kümmert sich Holger Hahn aus München um den über 70 Jahre alten Lkw-Veteranen. In dieser Reportage geht es um seinen Besuch bei einer alten Dame, die vor vielen Jahren mit dem Haubenwagen ihren Lebensunterhalt verdiente.

Am 8. Mai 1953 erhielt die Firma Wilhelm Meister in Basel einen nagelneuen Saurer S4C mit 24-Zoll-Bereifung und Wirz-Dreiseiten-Kippaufbau. Wenige Tage später nahm der Siebentonner seine Arbeit auf und leistete dem Schweizer Bauunternehmer zehn Jahre lang treue Dienste. In dieser Zeit erhielt er neue Bordwände aus Aluminium und eine hydraulische Lenkhilfe. Der erste Besitzerwechsel fand statt, als der Saurer von der Fuhrhalterei Wullschleger in Zofingen im Kanton Aargau übernommen wurde. In dem von Helene Wullschleger geführten Unternehmen war der Kipper bis Anfang der 1980er Jahre im Einsatz. Der nächste Besitzer war der „Getränkeshop Robi Banz“ aus Engelberg im Kanton Obwalden, bei dem das Fahrzeug jedoch nicht sehr lange blieb. Robert Banz fand, dass der inzwischen dreißig Jahre alte Kipper doch nicht so recht zu seinem Geschäft passte und verkaufte ihn 1983 nach Deutschland. Auf eigener Achse brachte er ihn ins Sauerland, auf die Kippbrücke hatte er seinen Pkw geladen, mit dem er nach dem Verkauf zurück ins Schweizer Engelbergertal fuhr.

Der neue Besitzer war Peter Michels, Borgward-Spezialist aus Schmallenberg in Nordrhein-Westfalen. Hier wurde der Saurer zerlegt und auf Herz und Nieren geprüft. Es gab kaum Roststellen und auch der Antriebsstrang war in gutem Zustand. Irgendwann hatte das Fahrzeug einen neuen Motor bekommen, aber wer das neue Aggregat wann eingebaut hatte, ließ sich nicht mehr recherchieren. So wurde alles belassen, wie es war, lediglich eine neue Lackierung war fällig.

Peter Michels, bei dem das Fahrzeug am längsten im Fuhrpark war, aber am wenigsten gefahren wurde, hatte immer Kontakt zu Helene Wullschleger gehalten. Man kannte sich, seit Michels nach dem Kauf des Fahrzeugs bei der Firma Wullschleger nach Ersatzteilen für das Fahrzeug gefragt hatte. Auf Anhieb mochte man sich und blieb in Kontakt. Als der Kipper 2023 erneut den Besitzer wechselte, wurde die alte Dame in der Schweiz umgehend informiert.

Damit kommen wir zum eigentlichen Thema dieses Berichts, denn bisher wurde nur die Vorgeschichte erzählt. Neuer Besitzer des mittlerweile zum Oldtimer gewordenen Kippers war und ist Holger Hahn aus München, Manager bei Ford Trucks Deutschland. In seiner immer knapper werdenden Freizeit ist Holger Hahn seit seiner Lehrzeit bei Daimler-Benz in Duisburg ein leidenschaftlicher Liebhaber von Oldtimern. Der Kipper mit den großen Rädern ist der zweite Saurer in seiner Sammlung historischer Nutzfahrzeuge, in der sich bereits ein Schweizer Alpenbus mit der Typenbezeichnung L4C befindet. Außerdem gibt es zwei Lkw von Mercedes (LA 312 und NG 1633 Sattelzug) und zwei weitere Busse (FBW-Europabus 50 U 54 R und Mercedes O 309 D). Einige klassische Personenwagen gehören auch noch dazu.

Als Holger Hahn seinen Saurer-Kipper vom Typ S4C von Peter Michels übernahm, wartete bereits ein Alpenbus vom Typ L4C desselben Herstellers auf den Familienzuwachs. Die beiden Schweizer Oldtimer ergänzen sich perfekt.
Mit dem Lenkrad auf der rechten Seite fährt es sich auf engen Bergstraßen sicherer, weil der Straßenrand besser einsehbar ist - so dachte man früher in der Schweiz und anderen Ländern Europas. Zudem war man der Meinung, Überholmanöver kämen für Lastwagen ohnehin nicht in Frage.
Klassische Saurer-Details: Emblem mit Treppengiebel, Armaturenbrett mit vielen Instrumenten, Scheibenwischer-Antrieb mit Druckluft und das im Scheinwerferglas eingravierte Logo

Kurz nachdem Holger Hahn den inzwischen siebzig Jahre alten Kipper gekauft hatte, meldete sich Beatrix Aeschlimann, die jüngere Tochter der früheren Besitzerin Helene Wullschleger. Die fast 70-jährige Schweizerin erzählte am Telefon, dass ihre Mutter, die den Saurer früher gefahren hatte, noch lebe. Sie muss wirklich sehr alt sein, dachte sich Holger Hahn und beschloss, ihr einen Besuch abzustatten. Im Juni 2024 machte er sich auf den Weg nach Zofingen, wo die Fuhrhalterei Wullschleger einst ihren Sitz hatte. Tief beeindruckt von der rüstigen und lebensklugen alten Dame versprach er, kurze Zeit später mit dem Saurer wiederzukommen. Inzwischen hatte sich ihr Alter herausgestellt: 101 Jahre.

Anfang Juli ging die Reise los. Auf der Kippbrücke des betagten Lastwagens hatte Holger Hahn eine große Holzkiste befestigt, die eine Tür enthält, um ins Innere zu gelangen. Dort hatte er sich eine gemütliche Unterkunft mit Dachluke eingerichtet, um unterwegs die Nächte zu verbringen. Als er bei den Wullschlegers in der Schweiz ankam, gab es einen sehr emotionalen Moment: Die alte Dame sah ihren alten Saurer nach fast einem halben Jahrhundert wieder. Dann setzte man sich zusammen und Helene Wullschleger erzählte von früher.

Nach langer Reise mal wieder zuhause: Auf dem Gelände der ehemaligen Fuhrhalterei Wullschleger hatte der mehr als 70 Jahre alte Kipper einstmals seinen Standort
Der erste Besuch bei der alten Dame fand noch ohne den Saurer statt, einige Wochen später gab es dann ein Wiedersehen mit dem Fahrzeug, mit dem sie in den Sechzigern und Siebzigern ihren Lebensunterhalt verdient hatte. Die Fotos zeigen Helene Wullschleger mit ihren Töchtern.

Die Fuhrhalterei in Zofingen hatte Johann Wullschleger um 1895 gegründet und 1905 ein Grundstück in der Aarburger Straße 8 erworben, auf dem es genug Platz genug für die nötigen Gebäude und Remisen für die Pferde gab. Die Geschäfte liefen gut, es gab immer genug zu transportieren. Nachdem Wullschleger im Jahr 1925 gestorben war, führte seine Frau Emma das Geschäft bis 1950 weiter und übergab es dann ihrem Sohn Hans. Zu den Pferden gesellte sich nun das erste motorisierte Fahrzeug. Die ältere Tochter Elisabeth erinnert sich noch gut an die gemeinsamen Fahrten mit dem kleinen Lastwagen, einem Borgward.

1958 starb Hans Wullschleger unerwartet im Alter von 47 Jahren an Lungenkrebs. Nach diesem schweren Schock musste seine Frau Helene das Transportunternehmen alleine weiterführen. Das war nur durch die Unterstützung von Großmutter Emma möglich, die sich um den Haushalt und die beiden Töchter kümmerte. Die kleine Spedition wurde nun in „H. Wullschleger Transporte, Zofingen“, umbenannt. Helene erwarb den Führerschein, zunächst nur für Lastwagen, später nach einer erneuten Prüfung auch für Personenwagen. Der Fuhrpark bestand inzwischen aus zwei Lkw der Schweizer Marke Berna, nach fünf Jahren erwarb sie den gebrauchten Saurer als drittes Fahrzeug. „Wir hatten dann immer zwei bis drei Lastwagen im Einsatz“, erzählt sie. Dass ausgerechnet dieser Saurer mit den ungewöhnlich großen Rädern angeschafft wurde, hatte einen guten Grund. Man konnte nicht so gut abschätzen, was sich da oben auf der Ladefläche befand, so dass es bei Polizeikontrollen kaum auffiel, wenn das Fahrzeug ein wenig überladen war.

Fotos aus alter Zeit, als Helene Wullschleger mit dem Saurer-Kipper täglich im Einsatz war

Hauptsächlich wurden Baustellen in der Umgebung mit Material beliefert, aber auch alles andere, was die Kunden brauchten und was mit den vorhandenen Fahrzeugen möglich war, wurde transportiert. Helene Wullschleger saß dabei an jedem Tag der Woche selbst am Steuer eines ihrer Lastwagen.

Einmal, so berichtete sie, wurden schwere Gerüststangen auf den Saurer geladen, weit über das Fahrerhaus hinaus. Als sie an der Abladestelle ankam, sollte eigentlich per Hand abgeladen werden. Doch die Arbeiter drängten sie, die Stangen einfach abzukippen. Sie war dagegen, aber die Männer ließen nicht locker. Dann kam, was kommen musste: beim Kippen verlagerte sich der Schwerpunkt der Ladung und der Kipperstempel brach aus der Führung. Nicht nur die angestrebte Zeitersparnis war dahin, auch Reparaturkosten fielen an.

Die größte Schweinerei war das Fahren von Transportbeton. Helene erinnerte sich, wie es schon beim Beladen Probleme gab, denn an der Ladestelle gab es eine Vorrichtung, die ihr und dem Saurer größte Mühe abverlangte, wieder herauszufahren. Nach dem Entladen musste sofort alles gründlich gereinigt werden, damit der Beton nicht alles verklebte und hart wurde. Ganz schlimm war es, wenn der Kunde nach der mühsamen Reinigung anrief und bemerkte: „Helene, es fehlt noch ein Kubikmeter“ – dann ging das Ganze wieder von vorne los.

Holger Hahn hätte der alten Dame noch tagelang zuhören können, aber die Arbeit rief und er musste sich auf den Heimweg machen. Als er zuhause ankam, hatte er mit seinem Saurer-Veteranen in zwei Tagen 950 Kilometer zurückgelegt – ein Erlebnis für sich.

Dieser Bericht wurde in abgewandelter Form bereits in der deutschen Lkw-Fachzeitschrift Fernfahrer sowie in der Schweizer Saurer-Gazette abgedruckt. Wir dachten, dass auch bei unseren Lesern Interesse besteht.

„Der Besuch der alten Dame“ ist eine tragische Komödie des bekannten Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt (1921 - 1990). Wir haben den Titel des Stücks für diese Geschichte leicht abgeändert.